09.12.2025

Zwischen Hörsaal und Zuhause: Wie eine HSBI-Studentin ihren Bruder pflegt – und trotzdem erfolgreich studiert

Gjuljeta Tarllamishaj vor dem HSBI-Hauptgebäude
Gjuljeta Tarllamishaj ist einer Doppelbelastung ausgesetzt: Sie pflegt ihren Bruder und studiert in Vollzeit Kindheitspädagogik. © P. Pollmeier/HSBI
Eine Hand bedient die Fernbedienung eines Krankenbettes
Die junge Frau möchte ihrem Bruder die Pflege so angenehm wie möglich machen. Eine bequeme Liegeposition ist das A und O. © P. Pollmeier/HSBI
Gjuljeta Tarllamishaj sitzt in der HSBI
Gjuljeta Tarllamishaj schreibt aktuell ihre Bachelorarbeit. Danach möchte sie mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen arbeiten. © P. Pollmeier/HSBI
Eine Studentin hält Beutel mit Nacl in der Hand
Ihr Bruder Tahir hat ein Tracheostoma und eine Magensonde. Um beides kümmert sich die Studentin täglich. © P. Pollmeier/HSBI
Zwei Frauen lagern eine Person im Bett um
Eine der wichtigsten täglichen Aufgaben ist das Umlagern ihres Bruders. Es beugt Druckgeschwüren und Gelenkversteifungen vor. © P. Pollmeier/HSBI
Gjuljeta Tarllamishaj ist 21 Jahre alt, sie studiert seit dem Wintersemester 2022 Kindheitspädagogik an der Hochschule Bielefeld in Vollzeit. Wenn sie nach Hause kommt, kann sie sich nicht einfach an den Schreibtisch setzen und lernen, den Haushalt erledigen oder schlichtweg mal entspannen. Zuhause wartet ihr 20-jähriger Bruder Tahir auf sie, den die junge Studentin seit 2023 pflegt. Um Studierende zu entlasten, die Angehörige pflegen, bietet die HSBI den Nachteilsausgleich und ein umfangreiches Beratungsportfolio an.

Bielefeld (hsbi). Wenn der Wecker von Gjuljeta Tarllamishajs klingelt, steht die 21-jährige Studentin sofort auf und macht sich auf den Weg ins Nebenzimmer. Hier beginnt ihr etwas anderer Alltag, denn dort liegt ihr Bruder Tahir in seinem Krankenzimmer, das an ein Zimmer eines Krankenhauses erinnert. Der 20-Jährige erlitt 2023 einen schweren Arbeitsunfall. Diagnose: Schädel-Hirn-Trauma. Die Verletzung war so schwer, dass Tahir bis heute im Wachkoma liegt und dauerhaft betreut werden muss. Während sich andere Studierende in Tarllamishajs Alter lediglich Gedanken über Stundenplan und Freizeitgestaltung machen müssen, ist die junge Frau einer enormen Doppelbelastung ausgesetzt. Denn eigentlich studiert sie in Vollzeit Kindheitspädagogik an der Hochschule Bielefeld (HSBI). Wie schafft sie das?

Der 6. September 2023 war der Tag, der alles verändert hat. Tahir Tarllamishaj hatte seinen ersten Arbeitstag in seiner Ausbildung zum Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik. Doch es sollte keinen zweiten geben. Der junge Mann sollte an diesem Tag beim Abladen von 1.000 Kilo Solarpaneels aus einem Lkw helfen. Das wurde ihm zum Verhängnis: Die Ware war nicht ordnungsgemäß gesichert und fiel auf den damals 18-Jährigen. Er erlitt einen Genickbruch und sein Herz stand für 19 Minuten still, bevor er durch Sanitäter wiederbelebt wurde. Seither liegt er im Wachkoma.

Studierende können Antrag auf Nachteilsausgleich stellen und erhalten kostenfreie Beratung über Amiravita

Gjuljeta Tarllamishaj am Laptop
Die 21-Jährige muss in ihrem anstrengenden Alltag immer wieder Zeit zum Lernen finden.

Die Vereinbarkeit von Studium und Pflege ist nicht einfach. Die ständige Doppelbelastung verlangt der jungen Studentin viel ab. Nicht immer hat sie den Kopf für Vorlesungen und Lerninhalte. Zudem muss das Zeitmanagement zwischen Pflege, Hochschule, Arbeits- und Privatleben stets gut organisiert sein. Müdigkeit durch fehlende Ruhephasen sind ein ständiger Begleiter.

Die Studentin hat erkannt, dass wahre Stärke nicht darin liegt, alles alleine zu schaffen, sondern auch darin, Unterstützung anzunehmen. Unterstützung kriegt sie unter anderem seitens der HSBI. „An der HSBI können Studierende, die einen anderen Menschen pflegen, einen Antrag auf Nachteilausgleich beim Prüfungsausschuss stellen“, berichtet Prof. Dr. Katja Makowsky, Zentrale Gleichstellungsbeauftragte der HSBI. „Wird der Antrag bewilligt, können sie bis zum Beginn einer Prüfung von dieser zurücktreten, eine Anmeldung nach Ende der Anmeldefrist vornehmen oder auch gesonderte Prüfungstermine bekommen. Zusätzlich ist auch die Ableistung eines Praxisprojektes, einer Praxisphase oder eines Auslandssemesters dann in Teilzeit möglich“, so Makowsky weiter.

„Die Dozent:innen sind alle immer sehr verständnisvoll. Ich durfte mir auch später ein Praktikum suchen, um mir da etwas Stress zu nehmen“, erzählt Gjuljeta Tarllamishaj. Im Studiengang Kindheitspädagogik des Fachbereichs Sozialwesen sind zwei Praxisphasen vorgesehen. Tarllamishaj hat dafür beim Intensivpflegedienst für Kinder und Jugendliche „KidsCare“ in Osnabrück gearbeitet. „Die Arbeit dort hat mir besonders geholfen, besser mit der Situation meines Bruders umzugehen. Ich finde es toll, dass die HSBI einem den Zugang zur Praxis so ermöglicht.“

Die Unterstützung von pflegenden Angehörigen in Deutschland schätzt Tarllamishaj jedoch als zu gering ein. „Ich habe erst durch andere Pflegefamilien und mein Praxissemester erfahren, welche Mittel mir zustehen.“ Die einhergehende Bürokratie sei problematisch. Die Bereitstellung von Hilfsmitteln und Therapien sei gut, aber pflegende Angehörige müssten abseits davon mehr aufgefangen werden. „Es bräuchte mehr Entlastungsangebote und umfassende Aufklärungen über Rechte und Mittel, die einem zustehen.“

Eine gute Anlaufstelle ist auch die Beratung Amiravita. Studierende und Mitarbeitende der HSBI können sich dort kostenfrei zum Thema Pflege und Krankheit beraten lassen. Der Zugang zum Online-Portal erfolgt über den Login im internen Bereich der HSBI. „Neben der individuellen Beratung veranstalten wir unterschiedliche Online-Info- und Austauchveranstaltungen in Kooperation mit Amiravita. Diese werden in der Regel gut angenommen und sind für alle Hochschulangehörigen offen“, so Prof. Dr. Makowsky.

Ein Pflegedienst half in der Anfangszeit, seither pflegt die Familie alleine

Eine Frau steht an einem Krankenbett
Wenn die junge Frau nicht in der Hochschule ist, ist sie die meiste Zeit bei ihrem Bruder.

Für Gjuljeta Tarllamishaj und ihre Eltern, 49 und 51 Jahre alt, war von vornherein klar, dass sie die Pflege selbst übernehmen möchten. Die zwei anderen Geschwister der Studentin sind noch zu jung. Nach sieben Monaten im Krankenhaus und drei Monaten in einer Pflegeeinrichtung kam Tahir Tarllamishaj nach Hause. Das Zuhause der Familie wurde barrierefrei eingerichtet. Ein Pflegedienst brachte der Familie in der Anfangszeit alles Wichtige bei.

Gjuljeta Tarllamishaj kontrolliert, ob ihr Bruder Fieber hat und wie seine Nacht war. Gab es Unruhe, Spastiken oder Krampfanfälle? Ist irgendetwas auffällig? An einem Monitor kann sie ablesen, wie seine Sauerstoffsättigung und der Puls sind. Dann geht es weiter mit der Körperpflege, sie wäscht ihren Bruder, putzt ihm die Zähne. Mit einem Absauggerät entfernt Gjuljeta Tarllamishaj jegliches Sekret, danach geht es ans Inhalieren. Tahir muss alle drei Stunden umgelagert werden, vom Bett in den Rollstuhl und zurück. Dieser Wechsel dient der Vorbeugung von Druckgeschwüren, der Verbesserung der Lungenbelüftung und Vermeidung von Gelenkversteifungen. Mit bestimmten Griffen und einer Rutschmatte schafft die junge Frau das Umlagern mittlerweile alleine.

Im Hals des 20-Jährigen ist ein Tracheostoma, eine operativ geschaffene Öffnung in der Luftröhre, um die Atmung zu unterstützen. Alle vier Wochen muss die Kanüle des Tracheostomas gewechselt werden, dafür kommt ein Arzt ins Haus. In Tahirs Bauch befindet sich eine weitere Öffnung, hier liegt seine Magensonde, auch Perkutane Endoskopische Gastrostomie (PEG) genannt. Sie führt direkt in den Magen und dient zur Nahrungsaufnahme und Medikamentengabe. Nach der Körperpflege verabreicht Tarllamishaj über die PEG die Medikamente und schließt Sondennahrung an. Sie redet viel mit ihrem Bruder oder macht einen seiner Lieblingsfilme an, um ihm die Pflege so angenehm wie möglich zu machen. „Er liebt Bollywood-Filme“, sagt die Studentin und lacht. Mehrfach die Woche kommt danach Fachpersonal für Physio-, Ergo- und Logopädie zur Familie nach Hause.

Feste Abläufe sind wichtig, um Pflege und Studium unter einen Hut zu bekommen

„Tahir war vor seinem Unfall ein unglaublich lebensfroher, liebevoller und hilfsbereiter Mann. Wir wissen, dass dieser Mensch immer noch da ist, auch wenn er sich nicht äußern kann“, sagt die Schwester. Durch die intensive Erfahrung in den vergangenen zwei Jahren haben Gjuljeta Tarllamishaj und ihre Familie gelernt, Tahirs Zeichen, Atmung oder Unruhe zu deuten. „So können wir auch ohne Sprache verstehen, wie es ihm geht.“

Die Pflege eines Menschen, besonders wenn er einem so nahesteht, ist eine Herausforderung. „Jeder Tag hat andere Emotionen und Herausforderungen. Allerdings hilft ein fester Ablauf“, sagt Tarllamishaj. Ihr Vater übernimmt die Nächte, Gjuljeta kümmert sich tagsüber. Ihre Mutter pflegt Tahir immer dann, wenn Gjuljeta in die Hochschule muss. Die emotionale Herausforderung ist die größte. Es gibt auch Tage, an denen Notfälle passieren können. Ihr Bruder kann Atemprobleme haben oder Fieber bekommen und ins Krankenhaus müssen. „Diese Tage sind besonders schwer, aber sie gehören zu unserem Alltag dazu.“ Die Aufgabe hat die junge Frau wachsen lassen. „Ich bin nicht nur geduldiger geworden, sondern auch bewusster im Umgang mit Rückschlägen.“

Eine Person hält die Hand eines anderen Menschen
Die Pflege eines Menschen, besonders wenn er einem so nahesteht, ist eine Herausforderung. Dennoch war für Gjuljeta Tarllamishaj und ihre Familie von vornherein klar, dass sie die Pflege selbst übernehmen möchten.

Gjuljeta Tarllamishaj schreibt aktuell an ihrer Bachelorarbeit. Danach möchte sie auf jeden Fall mit Kindern arbeiten. „Es erfüllt mich, Kinder zu begleiten und zu fördern.“ Die Pflege ihres Bruders hat ihr ihren beruflichen Wunsch nur bestätigt. Sie möchte gerne mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen arbeiten, ihnen helfen und sie stärken. Anderen pflegenden Angehörigen möchte sie mit auf den Weg geben: „Egal, wie dunkel manche Tage erscheinen, es kommen auch wieder hellere. In uns steckt mehr Kraft als wir denken.“ (sad)

Amiravita

Amiravita berät rund um das Thema Pflege und Krankheit. Die Beratung umfasst unter anderem:

- Fragen zur Beantragung eines Pflegegrades sowie weiteren Leistungen der Pflegekassen
- Psychosoziale Beratung
- Pflegeberatung und Schulung zu den Themen Pflege, Gesundheit und Prävention sowie zum Umgang mit psychischen Belastungen

Weitere Informationen

Bachelorstudiengang Kindheitspädagogik
Fachbereich Sozialwesen
Beratung Amiravita

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