12.07.2023

Missbrauchsfall Lügde und die Folgen: HSBI-Professor und Landkreis Hameln-Pyrmont etablieren Präventionskonzept gegen sexualisierte Gewalt an Kindern

Vier Jahre nach Bekanntwerden der erschreckenden Verbrechen im „Fall Lügde“ hat sich in der Region einiges im Bereich Kinderschutz getan. Gemeinsam mit dem Landkreis Hameln-Pyrmont hat Professor Wolfgang Beelmann von der Hochschule Bielefeld präventive Maßnahmen gegen Kindesmissbrauch ausgewählt, umgesetzt und deren Wirksamkeit überprüft. Die Ergebnisse des Projekts machen durchaus Hoffnung.

Bielefeld (hsbi). Der „Missbrauchsfall Lügde“ hat 2019 nicht nur die betroffenen Landkreise Hameln-Pyrmont (Niedersachsen) und Lippe (NRW), sondern ganz Deutschland tief erschüttert. Bestürzend war dabei sowohl das Ausmaß der von den beiden – zu hohen Haftstrafen verurteilten – Haupttätern begangenen Sexualstraftaten an Kindern, als auch die systemimmanenten Schwächen bei Jugendämtern und Polizeibehörden. In Lügde hat sich exemplarisch gezeigt, dass in unserer Gesellschaft immer noch eine zu geringe Sensibilität verbreitet ist, wenn es um den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen geht.

Ein nachhaltiges Kinderschutzsystem kann Risikofaktoren deutlich vermindern

„Diese Art von sexualisierter Gewalt wird sich trotz aller präventiven Bemühungen vermutlich niemals vollständig beseitigen oder verhindern lassen“, sagt Wolfgang Beelmann, Professor am Fachbereich Sozialwesen für das Lehrgebiet Psychologie, insbesondere Entwicklungspsychologie und Psychodiagnostik, an der Hochschule Bielefeld (HSBI). „Jedoch kann der Aufbau eines effektiven und nachhaltigen Kinderschutzsystems dazu beitragen, dass Risikofaktoren deutlich vermindert werden.“

Genau das versucht der Landkreis Hameln-Pyrmont seit März 2019 – als Reaktion auf die unfassbaren Gewalttaten im „Fall Lügde“. Beelmann und seine Mitarbeiterinnen Mareike Gehring und Julia Kindermann begleiten die Entwicklung und Umsetzung des Präventionskonzeptes wissenschaftlich. „Am Ende überprüfen wir, inwieweit die gesetzten Ziele erreicht werden und die Maßnahmen auch tatsächlich wirken“, so Beelmann.

Erster Ansatzpunkt: Kompetenz von Fachkräften und Ehrenamtlichen stärken!

Das Projekt des Landkreises hat zunächst drei zentrale Ansatzpunkte. Der erste betrifft Fachkräfte und ehrenamtlich Tätige im pädagogischen, sozialen und therapeutischen Bereich. „Für diese haben wir gemeinsam mit thematisch erfahrenen Bildungsanbietern (u.a. Kinderschutzbund Köln) bewährte Fortbildungsveranstaltungen zum Thema sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen etabliert, die ihre Kompetenz in diesem Bereich gezielt stärken sollen“, sagt der HSBI-Professor. Dass diese Maßnahme auch nachhaltig hochwirksam war, konnte Beelmanns Team mithilfe von Vorher-Nachher-Befragungen nachweisen. „Die hier erreichten Kompetenzverbesserungen stellen eine wichtige Grundlage für die Qualität präventiver Arbeit dar. Aus unserer Sicht ein voller Erfolg.“ Speziell geschult wurde in den kompakten Seminaren zum Beispiel das praktische Vorgehen bei Verdachtsfällen.

Zweiter Ansatzpunkt: Kinder sprach- und handlungsfähig machen bei Grenzüberschreitungen!

2023-07-10-HSBI-Kinder_schwarz
Beelmann: „Wir gehen davon aus, dass jeder siebte bis achte Erwachsene in Deutschland sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend erlitten hat.“

Ein zweiter Ansatz baut darauf, die Handlungskompetenzen von Kindern so zu fördern, dass sie weniger wahrscheinlich zu Opfern sexualisierter Gewalt werden, weil sie sich Täterstrategien leichter entziehen können. „Kindern soll vermittelt werden, welche Rechte sie haben, dass sie sich wehren können, wenn diese verletzt werden, und an wen sie sich wenden können, wenn sie Hilfe brauchen“, so Beelmann. „Außerdem ist es wichtig, dass Kinder sprachfähig werden im Hinblick auf ihren Körper und Sexualität.“

Diese Ziele verfolgt das Programm „Ziggy zeigt Zähne“, entwickelt von der Beratungsorganisation „pro familia“ in Brandenburg. Dabei lernen Schüler*innen der 3. und 4. Grundschulklassen während eines Projekttages auf spielerische Weise etwa, Grenzen bei unangenehmen Berührungen zu setzen oder „gute“ von „schlechten“ Geheimnissen zu unterscheiden. „Auch diese Veranstaltungen haben wir so eingerichtet, dass wir die Ergebnisse gut evaluieren konnten“, berichtet Beelmann. „Wichtig waren uns dabei auch Gruppendiskussionen mit den Kindern, in denen wir wertvolle qualitative Informationen sammeln konnten. Unter anderem zu dem Phänomen, dass sich Kinder oft selbst eine Mitschuld geben, wenn Grenzüberschreitungen durch Täter stattfinden. Das hätten wir per Fragebogen so nicht erfassen können.“

Dritter Ansatzpunkt: Zeigen, wie Kinderschutzkonzepte in der Praxis funktionieren!

Der dritte Ansatz besteht in der Weiterbildung zur Erstellung und Anwendung von Kinderschutzkonzepten – notwendig überall dort, wo mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet wird. „Inzwischen haben wirklich viele Mitarbeitende der entsprechenden Einrichtungen im Kreis Hameln-Pyrmont an den angebotenen Online-Workshops teilgenommen“, so Wolfgang Beelmann. „Jetzt müssen wir uns anschauen, wie die Inhalte vor Ort tatsächlich umgesetzt werden. Daran arbeiten wir gerade.“

Effektive Prävention gegen sexualisierte Gewalt an Kindern ist nach wie vor bitter nötig in Deutschland. Im vergangenen Jahr zählte die Polizeiliche Kriminalstatistik 15.520 ausermittelte Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch. „Die Dunkelziffer ist allerdings um ein Vielfaches höher“, unterstreicht Beelmann. „Wir gehen davon aus, dass jeder siebte bis achte Erwachsene in Deutschland sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend erlitten hat.“ Hinzu kommt eine grassierende Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen und Jugendpornografie im Internet – wobei auch immer mehr Minderjährige als Tatverdächtige ermittelt werden. Deren Zahl verzwölffachte sich in Deutschland seit 2018 auf nunmehr über 17.500.

Wird das Präventionsprojekt ein Prototyp für ganz Deutschland?

Wolfgang Beelmann ist dennoch zuversichtlich. „Im Kreis Hameln-Pyrmont wie in ganz Niedersachsen sind seit 2019 einige positive Ansätze angestossen, und ich habe in vielen Einrichtungen ein hohes Maß an Kompetenz und vor allem Motivation erlebt, die Probleme jetzt anzupacken“, sagt er. Wirksame Prävention benötige jedoch regelmäßige Fresh-ups, die auch in Zukunft finanziert werden müssten.

Am liebsten sähe Beelmann das Projekt als Prototyp für ganz Deutschland. Nordrhein-Westfalen und speziell das Jugendamt Bielefeld seien bereits interessiert, zumindest Teile der Maßnahmen durchzuführen. „Und im Herbst planen wir an der Hochschule eine kleine Tagung zu dem Thema. Dazu sollen dann insbesondere auch Interessierte aus der Region Ostwestfalen-Lippe angesprochen werden.“ (poe)

Weitere Informationen